Die Diskussion um die Begabten muss in Deutschland im Zusammenhang mit der Diskussion um eine Einheitsschule gesehen werden, die bereits vor dem ersten Weltkrieg begann. Die Einheitsschule konnte sich jedoch in Deutschland nicht durchsetzen, weshalb es auch keine planmäßige Fürsorge für den Aufstieg der Begabten aus allen Sozialschichten gab. In Deutschland war den Kindern aus den unteren Sozialschichten der Zugang zu einer höheren Bildung in dieser Zeit nicht möglich, da die Eltern Bildung nicht bezahlen konnten und die Kinder so früh wie möglich Geld verdienen mussten. In England und Frankreich entwickelte man dagegen in dieser Zeit ein vollständiges, in sich aufsteigendes Erziehungssystem, das allen Kindern im Rahmen ihrer intellektuellen Möglichkeiten gerecht wird. Nach dem ersten Weltkrieg gab es in Deutschland jedoch auch viele Pädagogen und Bildungspolitiker, die sich gegen eine so große Öffnung „nach unten“ und die Einrichtung besonderer „Begabtenschulen“ wehrten. Die Argumente waren:
- der übergroße Andrang zum Studium,
- die Überschätzung der akademischen Berufe,
- die Entfremdung von der Sozialschicht, in der die Familie lebt,
- eine Vermehrung des bereits vorhandenen „Bildungsproletariats“,
- die Einschränkung der Kinderzahl durch überlange Ausbildungszeit auch in den „unteren Kreisen“ (Moede, Piorkowski, Wolff 1919, S.61 f).
Es gab auch das Argument, dass Schüler, bei denen eine besondere Begabung gefördert würde, „hochmütig“ werden. Dagegen wurde jedoch argumentiert, dass wahre Bildung nicht hochmütig, sondern bescheiden mache (Moede, Piorkowski, Wolff 1919, S. 63).
Mit dem Einstieg in die Weltwirtschaft und in den ökonomischen Konkurrenzkampf nach dem ersten Weltkrieg wurde zugleich auch hier erstmals kritisiert, dass die höheren Schulen von vielen Schülern besucht werden, die nicht die erforderlichen Begabungen zeigen, während in den sogenannten Volksschulen ungenutzte Begabungen schlummern (Götze 1916, S. 48 ff). 1913 erwarben z.B. von 40 000 Gymnasialanfängern nur 9330 die Hochschulreife (ebd., S. 55). Peter Petersen gab 1916 im Auftrag des Deutschen Ausschusses für Erziehung und Unterricht ein Buch heraus mit dem Titel: „Der Aufstieg der Begabten“. Neben den intellektuellen Begabungen wurden nun auch handwerkliche und technische Begabungen einbezogen. Es ging vor allem darum, die „eigentliche Befähigung eines Kindes zu fördern, da Deutschland jede Befähigung am rechten Ort brauche“ (Petersen 1916).1916 wurden daher in Berlin die ersten „Begabtenschulen“ entwickelt. Hochbefähigte Knaben (Mädchen hatten in dieser Zeit noch keinen Zugang) wurden in sechs Jahren zur Universitätsreife geführt, (Moede, Piorkowski, Wolff 1919 S. 46). Das Besondere war, dass diese Schulen für Kinder aller Schichten offen waren. Freischulplätze gab es unbegrenzt und darüber hinaus wurde noch Unterhaltsbeihilfe gewährt.
1925 wurde auf Vorschlag Eduard Sprangers (1882-1963), einem der bekanntesten deutschen Pädagogen seiner Zeit, die „Studienstiftung des deutschen Volkes“ gegründet, aus der jedoch ab 1933 jüdische und marxistische Studenten ausgeschlossen wurden. In der Zeit des Nationalsozialismus, in der die Menschen unter rassebiologischen Gesichtspunkten eingestuft wurden, war eine objektive Begabtenforschung nicht möglich.
Ende der 1950er Jahre entwickelt sich verstärkt in der europäischen und amerikanischen Pädagogik die Richtung „gifted children“. (Lucito 1964, S.179f). Ab Anfang der 1960er Jahre beginnt in Westeuropa eine breit angelegte Begabungsforschung, denn das zunehmende Interesse an der Förderung von Begabungen ist auf die Notwendigkeit zurückzuführen, mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den USA und der UdSSR mithalten zu können. Man musste alle Begabungsreserven nutzen und man erkannte, dass diese auch in den unteren Sozialschichten zu finden sind. Es entstand auch die Forderung nach mehr Chancengleichheit im Bildungssystem. Die Sorge um mehr Bildung für Unterprivilegierte spaltete die Pädagogen jedoch in dieser Zeit in diejenigen, die sich nur noch um die Bildung der Unterprivilegierten bemühen wollten und es geradezu ablehnten, begabte Kinder zusätzlich zum normalen Unterricht zu fördern und solchen, die Eliteschulen forderten. 1978 wurde zwar die „Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V.“ mit Sitz in Hamburg gegründet und internationaler Erfahrungsaustausch ist inzwischen über die seit 1975 alle zwei Jahre stattfindenden Weltkonferenzen „World Council for Gifted and Talented Children (WCGTC)“ möglich. Doch erst seit den 1990er Jahren, möglicherweise auch angeregt durch den Bologna-Prozess, der zu mehr Zusammenarbeit zwischen den europäischen Ländern führte, ist es generell nicht mehr „verpönt“, spezifische Maßnahmen für die begabten Kinder einzufordern.
1991 gab es ein pädagogisches Forschungsseminar „Education of the gifted in Europe – theoretical und research issues“. Allen europäischen Unterrichtsministerien wurden im Seminar erarbeitete Zusammenfassungen und Empfehlungen zugeleitet. Sie bilden die Grundlage für die Empfehlung „On education for gifted childern“, die das Europaparlament 1994 aufnahm. „In dieser Schrift werden die Bedürfnisse besonders begabter Kinder als special needs herausgehoben, derer sich Gesellschaft und Bildungssysteme aus Gründen der Wertschöpfung von Humankapital widmen müssten“ (Preuß 2012, S. 47). 2004 wird ein Europaseminar in Deutschland durchgeführt, mit Vertretern von 27 europäischen Ländern (Mönks 2008, S. 55). Seit 2009 gibt es ein erstes Grundsatzpapier der Kultusministerkonferenz in Deutschland, das ein inklusives Recht für eine begabungsgerechte Förderung aller Schüler anerkennt.
Die entscheidende Frage, die sich Pädagogen und Bildungspolitiker derzeit stellen, ist: „Welche Kinder sind besonders begabt? Wie kann der Terminus ‚Begabung’ definiert werden, an welchen Kriterien kann Begabung festgemacht werden?“ William Stern (1871-1938), ein bedeutender deutscher Psychologe, Begründer der Differenziellen Psychologie und Erfinder des ersten Intelligenzquotienten, rief bereits vor fast hundert Jahren dazu auf, Begabungsforschung und Begabungsdiagnose zu betreiben. Stern betont, dass bei der Diagnose nicht nur die in der Schule sichtbaren Leistungen bestimmend sein dürfen, sondern besonders auch die wertvollen Fähigkeiten, die in ihrer Bedeutung in der Schule nicht gewürdigt werden. Er unterscheidet verschiedene Begabungen, so die rezeptive von der schöpferischen, die auditive von der visuellen, die vorwiegende Verstandesbegabung von der vorwiegenden Phantasiebegabung, die analysierende von der synthetischen (Stern 1916, S. 107).
Bahnbrechend war in Deutschland das Buch „Begabung und Lernen“, 1968 herausgegeben von Heinrich Roth. In diesem Band wurden für die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates zu den Aspekten „Begabung, Begabungsförderung und Begabungsauslese“ Gutachten erstellt. Es ging darum, „mehr Begabungen für (…) qualifizierte Berufsanforderungen“ durch Umwelt und Schule aufzuschließen (Roth 1970, S. 18). Laut der UNESCO Untersuchung über vergleichende Leistungen in Mathematik, belegte Deutschland im Vergleich mit u.a. USA, Frankreich, Schweden, Japan den vorletzten Platz. Die Begabungen wurden damals einseitig philologisch-sprachorientiert gefördert. In Anlehnung an Forschungsergebnisse aus den USA wurde erkannt, dass man „der industriellen Revolution wegen in allen Bildungsinstitutionen mehr Wert auf das Denken als auf das Wissen legen“ sollte, als Vorbereitung auf eine sich rasch verändernde Welt. In der Demokratie, in der Industrie und in der Wirtschaft wird der selbständig und kritisch denkende Mensch gebraucht (Bergius 1970, S. 229).
Seit Ende der 1990-er Jahre und bis heute konzentrieren sich die Studien der Begabungen und der Begabtenförderung in deutschen Bildungseinrichtungen in drei Forschungszentren:
a) Die Marburger Längsschnittstudie zur Hochbegabung (MHP) der Universität Marburg (von 1987 bis 2000) ist die weltweit größte Studie zu diesem Thema. Das Projekt zeichnet sich durch äußerst exakte Methodik (Versuchsplanung, Versuchsdurchführung und statistische Auswertung) aus. Hauptfragestellung des Projekts ist der Vergleich der Entwicklung von Hochbegabten und Hochleistenden mit einem Schwerpunkt auf nicht-kognitiven Variablen (Schulanpassung, Persönlichkeit, Sozialverhalten, Motivation, Arbeitshaltung, Interessen, Selbstkonzept usw.). Das Projekt wurde von dem Marburger Professor für Psychologie Detlef Rost geleitet (Rost 1993 und 2000).
b) Von 1997 bis 2004 wurde von den Universitäten Hildesheim und Dresden ein integrativer Schulversuch in Hannover wissenschaftlich begleitet. Der Schulversuch hat bundesweit Modellcharakter. Im Zentrum steht die Entwicklung und Erprobung didaktischer Konzepte, die eine optimale Förderung von sechs- bis zehnjährigen hoch begabten Kindern im Kreis "normal" begabter Mitschüler garantieren. Dabei sollen das Lern- und Sozialverhalten der Hochbegabten, ihre intellektuellen und sozio-emotionalen Kompetenzen und ihre individuellen Neigungen und Fähigkeiten Berücksichtigung finden (vgl. Henze, Sandfuchs, Zumhasch 2006).
c) Die Stiftung Internationales Centrum für Begabungsforschung (ICBF) wurde an der Universität Münster 1997 gegründet. Sie ist eine gemeinsame Einrichtung der Universitäten Münster, Nijmegen (NL) und Osnabrück. Standort des ICBF ist Münster. Schwerpunkte der Arbeit sind die Begabungsforschung, d.h. die Erforschung von Entwicklungsbedingungen besonderer Begabungen sowie Implementierung und Evaluation von Diagnoseinstrumenten, Beratungsansätzen und Förderkonzepten für besonders begabte Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Neben der Forschung sind auch die Begabtenförderung und die Aus- und Weiterbildung Aufgaben des ICBF. Das ICBF führt Diagnostik und Beratung sowie Weiterbildungsangebote für Lehrerinnen, Erzieherinnen und Beraterinnen durch. Sie ist eine gemeinnützige Einrichtung zur Unterstützung der Begabungsforschung und Begabtenförderung sowie der Aus- und Weiterbildung. Insbesondere dient sie der Förderung der Bildung und Erziehung, der Unterstützung hilfsbedürftiger Personen sowie der Wissenschaft und Forschung (vgl. Vock, M.; Preckel, F.; Holling, H. 2007).
Die folgenden Ausführungen berufen sich u.a. auf Ergebnisse der Studien der genannten Forschungseinrichtungen.
Identifikation von Begabung in der Schule aufgrund der Diagnostik
Diagnostik im Bereich der Begabungsfeststellung wird heute wie allgemein in der pädagogischen Diagnostik als „prozessbegleitende Reflexion und Intervention“ gesehen. Damit ist eng verbunden die Vermeidung eines „Defizit-Blicks“ zu Gunsten eines wertschätzenden positiven Blicks. Der Intelligenztest ist – wie bereits ausgeführt – nur eine Möglichkeit der Diagnose, die im Schulalltag in der Regel nicht sinnvoll ist. Zur Diagnosekompetenz gehören, dass der Lehrer die Beobachtung als wesentliche Diagnosequelle nutzt sowie die Eltern und das häusliche Umfeld des Schülers als wichtige Informationsquelle. Das Ziel ist die mit den Eltern und Kollegen „gemeinsame Erstellung eines mehrdimensionalen, entwicklungsfähigen, mithin perspektivenreichen Bildes“ (Esser 2013, S. 47). Übrigens sollten Listen mit Merkmalen einer besonders hohen Begabung eines Schülers, wie die folgende Liste, auf jeden Fall nur als Leitfaden genutzt werden. Im Laufe der Studien wurde festgestellt, dass hochbegabte Kinder und Jugendliche
- ein sehr hohes Detailwissen haben;
- einen für das jeweilige Alter ungewöhnlichen Wortschatz besitzen;
- sich Fakten schnell merken können;
- sehr genau Ursache-Wirkung und faktische Zusammenhänge durchschauen;
- nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden suchen;
- schnell bei schwierigen Aufgaben zugrundeliegende Prinzipien erkennen;
- außergewöhnlich gut beobachten können;
- Bücher, die über ihre Altersstufe hinausgehen, bevorzugen;
- in bestimmten Problemen völlig aufgehen;
- bemüht sind, Aufgaben vollständig zu lösen,;
- gerne unabhängig arbeiten, um hinreichend Zeit für das Durchdenken eines Problems zu haben;
- sich viel mit Fragen und Klärung von Recht und Unrecht beschäftigen und bereit sind, sich gegen Ungerechtigkeiten zu engagieren;
- dazu neigen, Situationen zu bestimmen;
- sich in andere einfühlen können;
- Routineaufgaben langweilig finden.
Es muss heute davon ausgegangen werden, dass ca. 50 % aller hochbegabten Kinder in der Schule nicht als solche erkannt werden. Schulpsychologen berichten immer wieder von Fällen, in denen die Eltern von „Problemkindern“ Rat suchen, bei denen dann eine Hochbegabung festgestellt wird (vgl. u.a. Stapf/ Stapf 1991). Das Spektrum der Auffälligkeiten, die diese Kinder zeigen, reicht von motorischen Störungen über Störverhalten bis hin zu Leistungsversagen. Es lassen sich folgende Merkmale beobachten: Die Schüler sind häufig gegen die Schule eingestellt; sie sind unruhig und unaufmerksam; oft gelangweilt, gedankenverloren; sehr redegewandt, aber im Schriftlichen schwach; übertrieben selbstkritisch; ungeduldig; bei den Klassenkameraden eher unbeliebt und geschickt darin, ihre Fähigkeiten nicht zu zeigen (vgl. Stapf/ Stapf, S. 208 ff). Von den hochbegabten Schülern, die eine Beratungsstelle aufsuchen, zeigen 50 % Schulversagen oder schlechte schulische Leistungen. 20 % haben Probleme der sozialen Anpassung (vgl. Feger/ Prado 1998, S. 106). Kreativ begabte Kinder, die nicht als solche erkannt werden, sind in der Gefahr, ein Leben der Mittelmäßigkeit und der unerkannten Fähigkeiten zu führen. Die rechtzeitige Identifikation einer Hochbegabung kann aber Verhaltens- und Einstellungsänderungen hervorrufen sowohl bei den Schülern als auch bei den Lehrern und zu einem Wendepunkt in der schulischen Karriere eines Kindes werden.
Die Forschergruppe um Henze und Sandfuchs hält es aufgrund ihrer Ergebnisse der Evaluierung des Schulversuchs „Integrative Förderung von Schülern in der Grundschule“ für schwerwiegender, ein hochbegabtes Kind nicht als solches zu identifizieren, als fälschlicherweise eine Hochbegabung anzunehmen (Henze/ Sandfuchs u.a. 1998, S. 8). Auch niedrige Testleistungen sollten nicht dazu verleiten, für Fähigkeiten, die vorhanden sind, blind zu machen (Torrance 1982, S. 61). In Untersuchungen wurde festgestellt, dass auf das Lehrerurteil nicht unbedingt Verlass ist und besondere Begabungen, vor allem wenn es sich um Kreativität handelt, nicht erkannt und gefördert werden (Wild 1993, S. 256/ 257).
Dagegen muss man aber auch festhalten, dass sich die Mehrzahl der Schüler mit hoher Begabung unproblematisch entwickelt. In der Marburger Langzeitstudie wurden Kinder im Alter von 9 Jahren und in einer zweiten Stufe als Jugendliche von 15 Jahren untersucht. Als „roter Faden“ zieht sich ein Befund durch fast alle Resultate: „Hochbegabte Grundschüler sind zuerst einmal und vor allem Kinder wie alle anderen Kinder auch, mit ähnlichen Vorlieben, mit ähnlichen Abneigungen, mit ähnlichen Schwierigkeiten, mit ähnlichen Vorzügen“ (Rost 2000, S. 5). Das (vor allem von besorgten Eltern) häufig geäußerte Bedenken, die Jugendlichen würden im normalen Schulkontext nicht genügend gefordert und würden ihre hohe intellektuelle Potenz nicht genügend einsetzen, konnte nicht bestätigt werden. Auch eine problematische emotionale Verfassung der Hochbegabten – wie in den Medien zeitweise behauptet – konnte nicht festgestellt werden (Freund-Braier 2000, S. 202-204). Hochbegabte Jugendliche verfügen über ein differenzierteres Konzept eigener Handlungsfähigkeit und Handlungskontrolle als Jugendliche mit durchschnittlicher Intelligenz (dies zeigte sich auch schon bei den Grundschülern), das ihnen in der Regel hilft, den Schulalltag problemlos zu bewältigen (Schütz 2000, S. 331).
Risikofaktoren. Nach der Marburger Studie lässt sich erst aus der Intelligenz im Alter von 14 Jahren eine sehr gute Prognose für die vermutliche Intelligenz im Alter von bis zu 18 Jahren stellen (Hanses 2009, S. 95). Ab dem Alter von 8 Jahren kann für den durchschnittlichen als auch für den oberen Intelligenzbereich hohe Stabilität verzeichnet werden, die bis zum Erwachsenenalter noch ansteigt. Allerdings konnte in der Marburger Studie bei 29 % der Ausgangsstichprobe die im Grundschulalter gestellte Hochbegabungsdiagnose nicht erneut verifiziert werden (Hanses 2000, S. 150). Stabil hochbegabt bleibt offensichtlich nur der, der durch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit vielfältigen Themen quasi seine Intelligenz ständig trainiert. Dabei ist das Interesse für Mathematik von besonderer Bedeutung. Die Schulform hat laut dieser Studie eindeutig Auswirkungen auf die Entwicklung der Intelligenz. Bei Schülern, die die Hauptschule besuchen, ist ein Abfall von 5 IQ-Punkten zu verzeichnen, bei Schülern der Realschule von 3 IQ-Punkten und bei Schülern des Gymnasiums ein Anstieg von 7 IQ-Punkten (Hanses 2009, S. 151). Diese Ergebnisse sind insbesondere für Deutschland bedenkenswert, da die Verteilung auf die genannten Schulformen bereits nach dem 4. Schuljahr erfolgt.
Ein wichtiger Faktor ist in diesem Zusammenhang der Aspekt des sozioökonomischen familiären Hintergrundes (Hanses 2009, S. 152). Je höher der Sozialstatus der Eltern, desto positiver entwickeln sich die Intelligenztestleistungen der Kinder. Der Sozialstatus ist allerdings nur eine Trägervariable, d.h. dass er keine Einwirkung auf die Entwicklung der Intelligenz an sich hat, sondern Einfluss haben nur Merkmale wie Anregungsreichtum im Elternhaus, Zugang zu kulturellen Bildungsgütern, intellektuelle Erwartungen der Eltern, finanzielle Ressourcen, Berufsstatus des Haushaltsvorstandes, die Schulbildung der Mutter, Kinderreichtum (Hanses 2009, S. 154). In multikulturellen Gesellschaften besteht das Problem, dass Begabungen aufgrund von nicht ausreichender Beherrschung der Landessprache oft nicht erkannt werden.
Negativen Einfluss auf die Entwicklung von Begabungen können auch die mit Konflikten beladenen Interaktionen mit der Umgebung haben sowie soziale Konflikte, aus denen Störungen der Persönlichkeit erwachsen können. Gespannte Familienverhältnisse, einschneidende Erlebnisse (Tod eines Elternteils, ein Unfall, Krieg), Scheidung der Eltern, ein rigides Erziehungsverhalten der Eltern, zu hohe oder zu geringe Erwartungen, seelische Verwahrlosung, inkonsequente elterliche Erziehung sowie Frustrationen, können dazu beitragen, Kinder unsicher und ängstlich gegenüber ihren eigenen Fähigkeiten zu machen.
Ein Leben in Armut kann unmittelbare Auswirkungen auf die schulische Sozialisation eines Kindes und Jugendlichen haben wie u.a. Diskriminierung aufgrund der Wohngegend, gesundheitliche Schädigungen aufgrund vitaminarmer Ernährung, reduzierte Anregungen, psychosoziale Probleme z.B. durch überhöhten Alkoholkonsum, zu frühe Verantwortung für die Familie (vgl. Graumann 2001). Gerade in Bezug auf Schüler, die in Armut leben, zeigt sich die Chancenungleichheit der schulischen Bildung deutlich. Damit geht einher, dass besondere Begabungen, die diese Kinder haben entweder gar nicht erkannt und gefördert werden, oder aufgrund psychischer Labilität nicht zum Tragen kommen können. Die Ursachen für die genannten Probleme liegen in erster Linie darin, dass die Hochbegabung nicht als solche erkannt wird und diese Kinder unterfordert werden. Die wahrnehmbaren Probleme ähneln denen von Kindern mit einer Lernstörung (s. Ausführungen über die Underachiever).
Begabtenförderung : Separation oder Inklusion? Hochbegabtenförderung im regulären Klassenverband ist eine anspruchsvolle, aber nicht unmögliche Aufgabe. Zahlreiche Studien, die insbesondere schon in den 1980er Jahren durchgeführt wurden, zeigen keine negativen Effekte für die Begabten bzw. die weniger Begabten (vgl. Kulik/Kulik 1989; Slavin/ Karweit 1984; Eyre 1997). Der integrative Ansatz hat wissenschaftlich belegte Vorteile, da die besonders Begabten den bereichernden und zufrieden stellenden Umgang mit Entwicklungsungleichen haben, zudem spiegelt der soziale Umgang mit unterschiedlichen Sozialschichten das wirkliche Leben wieder.
Heute sollte im Zuge der Forderung nach Inklusion die Frage nach Spitzenförderung und der vermehrten Einrichtung von Eliteschulen nicht mehr diskutiert werden. Insgesamt herrscht daher bei den Fördermaßnahmen in der EU das integrative Modell vor. Inklusion bedeutet nicht nur Integrierung in eine Schulklasse, sondern bestmögliche Förderung jedes Schülers in seinen individuellen Fähigkeiten. Daher besteht Konsens zwischen Bildungspolitikern und Wissenschaftlern, dass Schüler mit einer Hochbegabung schulische Förderung erfahren müssen. Es geht dabei vor allem um die Weckung, Stimulierung und Entwicklung von besonderen Interessen und Begabungen in Form einer besonderen Pädagogik, die das individuelle Lernen in den Mittelpunkt rückt. Deshalb muss es weiterhin unterschiedliche Ansätze der Begabtenförderung in der Schule geben, die auch zeitweilige Gruppierungen nach Leistungen einschließen kann wie u.a.: Die zeitliche Beschleunigung des Lernens (Akzeleration) durch frühzeitige Einschulung; Überspringen von Klassen sowie Einrichtung von Profilklassen ab Klasse 7, mit einem erweiterten Unterrichtsangebot (Enrichment); Bildung von Fähigkeitsgruppen als äußere Differenzierung wie Spezialschulen, fachübergreifende Sonderförderzweige, fachbezogene Sonderförderzweige, spezielle fachbezogene Kurse, Niveaugruppen u.a.m.
Alle Forschungsergebnisse zu differenzierenden Maßnahmen innerhalb des Regelschulsystems zeigen, dass hochbegabte Schüler von Maßnahmen der Fähigkeitsgruppierung in ihrer Leistungsentwicklung profitieren. Aber auch für die innere Differenzierung konnten positive Effekte auf die Leistung aufgezeigt werden. Vock, Preckel und Holling stellen fest, „dass die Gruppierung besonders Begabter in gesonderte Klassen und Kursen allein noch keine förderliche Wirkung hat“, wenn nicht zugleich curriculare Veränderungen vorgenommen werden, auch in Bezug auf das Lehrmaterial und die Lehrmethoden. Die Fähigkeitsgruppierung Begabter kann auch zu einer Verschlechterung ihres akademischen Selbstkonzepts führen und zu Gefühlen der Isolation beitragen (Vock, Preckel, Holling 2007, S. 50). Das häufig gebrauchte Argument, dass die weniger Begabten verlieren, wenn die Begabten ausgesondert werden, konnte in der Studie nicht bestätigt werden (Vock, Preckel, Holling 2007, 49). Der „Matthäus-Effekt“, dass leistungsstärkere Schüler immer stärker und leistungsschwächere Schüler immer schwächer werden, lässt sich dagegen in leistungsheterogenen Gruppen nachweisen. „Da Schulleistungen (…) durch kumulative (…) Lern- und Wissenszuwächse gekennzeichnet sind, werden die Chancen ‚aufzuholen‘ für Begabungsschwache in undifferenzierten Lerngruppen zunehmend geringer“, schreibt Heller (2008, S. 261). Um diesem Effekt zu begegnen, bedarf es ausreichender unterrichtlicher Differenzierungsmaßnahmen.
Die Forschungsergebnisse zeigen in Bezug auf Akzeleration: Es gibt keine Erkenntnisse, die gegen eine vorzeitige Einschulung sprechen, allerdings hängt der Erfolg von der Fähigkeit der Lehrkraft ab, das Kind in die Klassengemeinschaft zu integrieren. (vgl. Vock, Preckel, Holling 2007, S. 64). Das Überspringen einer Klasse kann intellektuell besonders begabten Schülern grundsätzlich empfohlen werden, wenn das Kind unterfordert ist. Das Springen wirkt sich positiv auf die Lernmotivation aus, das Selbstwertgefühl und die Fähigkeit zur Anpassung an neue Situationen. Allerdings ist es auch hier erforderlich, individuelle Entscheidungen zu treffen. Das Kind muss geeignet sein und die neuen Lehrpersonen müssen damit umgehen lernen. Das Überspringen kann ggf. noch nicht ausreichen und es müssen noch weitere Fördermaßnahmen angeboten werden. Es zeigt sich, dass die Verkürzung der Gymnasialzeit überwiegend positiv ist.
Das Enrichment wie u.a. Pull-out Programme (einzelne Schüler werden für Stunden oder einen Tag in einem Verband von gleich leistungsstarken Schülern unterrichtet) zeigen positive Effekte für die intellektuelle Entwicklung (Vock, Preckel, Holling 2007, S. 93 ff). Es kann aber auch ein Gefühl des „Anderssein“ erzeugen – darauf muss mit entsprechenden sozialen Maßnahmen reagiert werden. Ebenso stellen Schülerakademien und Sommerprogramme geeignete Maßnahmen zur Förderung dar. Die Akademieteilnahme wirkt sich unmittelbar positiv auf die Anwendung selbst gesteuerter und kommunikativer Lernstrategien, auf das Ausmaß an tiefer gehendem Wissen und auf die Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit aus. Es konnte auch ein förderlicher Effekt auf die sozialen Kompetenzen der Schüler durch Arbeitsgemeinschaften und spezielle Kurse festgestellt werden. Eigene Arbeitstechniken konnten optimiert werden. Allerdings müssen auch hier die Kursleiter sehr gut weitergebildet werden. Die Teilnahme an Wettbewerben erweist sich ebenfalls als vorteilhaft. Ein großer Teil der Teilnehmer an Wettbewerben erwies sich später als erfolgreich im Beruf – unabhängig davon, ob sie Sieger waren oder nicht. Wettbewerbe eignen sich auch, um besondere Begabungen zu identifizieren (Vock, Preckel, Holling 2007, S. 116). Gerade für Underachiever bieten Wettbewerbe eine gute Möglichkeit, zu zeigen, was eigentlich in ihnen steckt. Selbständige Arbeit in Projekten erweist sich als sehr effektiv. In den Niederlanden können die Schüler in einer Schule anderen Unterricht ausfallen lassen, um an ihrem Projekt zu arbeiten. Auch hier haben insbesondere die Underachiever eine Chance, sich einzubringen (Groensmit 2008, S. 111 ff).
Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass es – trotz der Vorteile, die eine leistungsbezogene Gruppierung haben kann – eine völlig falsche Auffassung ist, dass begabte Schüler auf jeden Fall besser lernen, wenn sie unter sich sind. Die Forschungsergebnisse haben jedoch gezeigt, dass sich jede Art von Akzeleration und Enrichtment positiv auf das Selbstkonzept der Begabten auswirken kann sowie eine Leistungssteigerung bewirkt, sofern der Schüler für die Maßnahme geeignet ist und das Lehrpersonal auf die Aufgaben vorbereitet ist. Zu bedenken ist allerdings auch, dass laut Untersuchungsergebnis (Sparfeldt, Schilling, Rost 2009, S.492 f) segregierende Förderansätze wie die eben beschriebenen eher auf Ablehnung durch Schüler und ihre Eltern sowie die Lehrer stoßen. Diese wünschen eher innere Differenzierung und einen anreichernden Unterricht.
Lehrerbildung. Kennzeichnend ist, dass bei einem begabten Schüler, dessen Elternhaus intakt ist und der keine psychischen Probleme hat, schulischer Unterricht nicht bedeutsamer und wichtiger ist als außerschulische Aktivitäten und Lernmöglichkeiten. Sobald es jedoch Schwierigkeiten gibt, die in der Familie liegen können, in den sozialen Bedingungen unter denen ein Kind aufwächst und/oder im schulischen Umfeld, spielt es eine entscheidende Rolle, wie Lehrer reagieren, wie sie den Unterricht gestalten und inwieweit es ihnen gelingt, den Schüler zu motivieren und ihm Wertschätzung entgegen zu bringen. In den bisherigen Ausführungen wurde immer wieder deutlich, welche bedeutende Rolle die Lehrer im Erkennen, sowie in der Herausbildung und Förderung von Begabungen spielen. Es kann die Persönlichkeit der Lehrperson, ihr Unterrichtsstil, ihre Didaktik, ihre Zielvorstellungen, ihre Kenntnis von der Individualität der einzelnen Schüler ausschlaggebend dafür sein, ob ein Kind seine Begabungen, Talente und Interessen entwickeln kann oder nicht, ob es entsprechend gefördert wird oder ob seine Begabungen eher verkümmern. Die Forderung, Lehrer für Hochbegabte zu trainieren ist daher nicht aus der Luft gegriffen. Bei einer Befragung von 21 Experten aus dem Bereich der Hochbegabtenförderung stellte sich heraus, dass die Auswahl und das Training von Lehrern noch wichtiger ist als ein besonderes Curriculum.
Ein wichtiger Punkt ist vor allem die Notwendigkeit von differenzierenden Instruktionen bei unterschiedlichen Arten von hochbegabten Kindern. Das bedeutet, dass die Lehrenden über die Lernwege von Kindern mit einer Begabung Bescheid wissen müssen. Eine Reihe von Untersuchungen hat ergeben, dass „wann immer die Art und Weise des Unterrichtens gewechselt wird, verschiedene Kinder zu den besten Lernern und Denkern werden. Die Studie von Henze/ Sandfuchs/ Zumhasch (2006) zeigte, dass Voraussetzung für eine integrative Förderung hochbegabter Kinder die Gewährung ausreichender Freiräume ist, um
Lernprozesse eigenständig steuern zu können. Hierzu bieten sich neben offenen Unterrichtsformen und projektorientierten Unterrichtseinheiten schulstoffunabhängige Themen an, die jenseits des regulären Lehrplans Anreize schaffen und bei den Hochbegabten für intellektuelle Herausforderung sorgen. Aber auch ein traditioneller Unterrichtsstil im herkömmlichen Stundentakt muss einer integrativen Hochbegabtenförderung nicht widersprechen. Entscheidend ist, dass die Pädagogen bereit sind, ihre lehrende Rolle im Umgang mit den hochbegabten Schülern neu zu definieren: als Begleiter und Berater, die
die Persönlichkeit dieser Kinder achten und ihre Potenziale, ihre Defizite, aber auch ihre häufig unkonventionellen Lernwege und Denkmuster akzeptieren.
Die Forschergruppe aus Münster schlägt zur Verbesserung der Diagnose- und Förderkompetenz der Lehrkräfte ein Kompetenzmodell vor, das aus drei Stufen besteht (vgl. auch Vock, Preckel, Holling 2007, S. 155):
- Basisstufe A: Begabungstheorien, Indikatoren, Förderprinzpien etc.;
- Kompetenzstufe B: Entwicklungspsychologische, sozialistationstheoretische und kulturvergleichende Ergebnisse der Begabungsforschung und Elternberatung;
- Kompetenzstufe C: Fundiertes testtheoretisches Wissen, genetische und neurowissenschaftliche Aspekte von Begabung und Lernen; Einzelfallberatung; Präventions- und Interventionsmaßnahmen planen und durchführen.
In der Praxis ist es im Rahmen des Trainings gelungen, vorher vorhandene Barrieren abzubauen, eine gemeinsame Vision zu erzeugen sowie mit jedem Beteiligten Veränderungsziele zu entwickeln. Diese Art von Weiterbildungsmaßnahmen ist erforderlich und notwendig, denn sie kommen nicht nur den begabten Schülern, sondern allen Schülern zu Gute. Kompakte Weiterbildungsseminare zur Förderung von Hochbegabten sind in Deutschland selten. Es gibt jedoch z.B. einen Masterstudiengang „ Begabungsförderung“ an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule der Nordwestschweiz sowie ein europaweit anerkanntes Diplom ECHA (European Council for High Ability). Lehrkräfte mit dem ECHA Diplom erhalten die berufliche Qualifikation „Specialist in Gifted Education“. Es ist ein dreisemestriges und ein postgraduales Masterstudium, das in Deutschland an der Universität Münster absolviert werden kann.
Schlussbemerkung. Von dem „Problem Hochbegabung“ zu sprechen ist nicht richtig, denn es wird nur dann zum Problem, wenn die individuelle Begabung und Kreativität auf welchem Gebiet auch immer, von den Pädagogen nicht gesehen und nicht gefördert wird. Welches Ergebnis eine Forschungsstudie zeigt, hängt immer davon ab, wonach gefragt wird. Betrachtet man die Förderung von Schülern mit besonderen Begabungen nur aus dem Blickwinkel ihrer kognitiven Leistungen, so kann eine separierende Leistungsgruppierung leistungssteigernd wirken. Nimmt man jedoch auch die soziale, emotionale und kreative Entwicklung mit in den Blick, können integrierende Maßnahmen wirkungsvoller sein. Es gibt nicht eine Lehr- und Lernmethode oder eine Fördermaßnahme, die für alle Schüler die richtige ist – es gibt nur die für den individuellen Schüler richtige Methode und Maßnahme. Dem Schüler die Freiheit zu lassen, den richtigen Weg gehen zu dürfen und/oder dem Schüler zu helfen, diesen für ihn richtigen Weg zu gehen, wird zu dem Ziel führen, Begabungen und Kreativität zu erkennen und weiterzuentwickeln.